Blog zu Themen und Fragen aus der Philosophie. Schwerpunkte aktuell sind Digitale Ethik, Bildethik und Künstliche Intelligenz. Ich poste hier zwei- bis dreimal im Monat (mit Ferienpausen). Kommentare sind möglich und erwünscht.
14.10.2024
Hans Jonas (1903–1993) war einer der zahlreichen, vom Denken Heideggers hingerissenen Philosophiestudenten. Von Heideggers Verstrickung mit dem Nationalsozialismus war Jonas doppelt betroffen: als Jude und als Philosoph. In Jonas’ Erinnerungen, auf die ich im letzten Monat zufällig stiess, hat mich neben seinem atypischen Werdegang als Philosoph vor allem seine grosse Enttäuschung über die «Kraft der Philosophie» beschäftigt.
Im ‹Fall Heidegger› wurde Jonas’ Glaube an die «Kraft der Philosophie» grundsätzlich erschüttert. Er spricht von einem «Debakel», einer «Blamage», ja einem «Bankrott philosophischen Denkens» (Jonas 2023: 299):
«Ich hegte damals die Vorstellung, vor so etwas sollte die Philosophie schützen, dagegen sollte die den Geist feien. Ja, ich war sogar überzeugt, dass der Umgang mit den höchsten, wichtigsten Dingen den Geist des Menschen adelt und auch die Seele besser macht.» (Jonas 2023: 299 f.)
Jonas’ Enttäuschung über die «Kraft der Philosophie» wirft die prinzipielle Frage auf:
Kann Philosophie vor Ideologien, Verschwörungstheorien, Antisemitismus u. a. schützen?
Oder metaphorisch gefragt:
Hat Philosophie an sich einen hohen ‹Schutzfaktor›?
Mit Jonas’ Annahme, dass der Umgang mit «höchsten, wichtigsten Dingen» bzw. «Geistigem» sozusagen automatisch «vor so etwas» schützt, kann man meines Erachtens ‹Phänomene› wie Heidegger nicht erklären. Jonas’ Position ist zu idealistisch – obwohl auch ich glaube, dass eine vertiefte Auseinandersetzung mit geistigen Inhalten bildend ist. Empirisch ist es aber offensichtich, dass ein enger Umgang mit «Geistigem» allein (falls das überhaupt die Aufgabe der Philosophie ist) nicht automatisch vor Ideologie oder Dogmatismus schützt.
Den ‹Schutzfaktor› der Philosophie muss man wohl anders konzeptualisieren. Ich denke, dass es darauf ankommt, wie man Philosophie versteht, welche Aufgabe man ihr zuschreibt und wie man sie ausübt.
Skizzenhaft formuliert, setzt sich für mich der ‹Schutzfaktor› aus folgenden Elementen zusammen:
Denken: kritisches Denken, d. h. Denken mit logischer Konsistenz und argumentativer Kohärenz, mit nachvollziehbaren Termini, mit einem abwägenden, dialektischen methodischen Vorgehen.
Sprache: eine möglichst klare, präzise, eher nüchterne Sprache und Begrifflichkeit. Nach einer gängigen Definition beginnt die Philosophie mit Staunen, versucht aber die Erfahrung (nicht wie die Dichter im Raunen) im Denken zu erfassen, zu strukturieren und allgemein nachvollziehbar zu machen.
Selbstreflexion: ein selbstkritisches Bewusstsein für die eigenen ‹blinde Flecken› wie z. B. kognitive Verzerrungen, kulturelle oder genderspezifische Perspektiven etc.; generell eine Haltung der Offenheit für andere Positionen.
Skepsis: eine angemessene Portion Skepsis im Sinne eines strategischen Zweifels – gegenüber einer komplizierten Sprache, gegenüber hohlen Argumenten, gegenüber der eigenen Perspektive und auch gegenüber einer finalen ‹Klärungsmacht› von Philosophie.
Philosophie hat nicht an sich einen hohen Schutzfaktor, sondern dann, wenn sie sich als eine pragmatische, skeptische, kritische, selbstreflexive Unternehmung versteht, die ihr Wirksamkeitsfeld nicht überdehnt. Gerade damit hat sie m. E. Glaubwürdigkeit, kann eine bedeutende Rolle im öffentlichen Diskurs einnehmen und «vor so etwas» schützen. Jonas schreibt «Ich hegte damals [kursiv von P. N.] die Vorstellung…» – vielleicht hat er seine Position später revidiert, ich weiss es nicht. Auf jeden Fall bekam er mit seinem Alterswerk Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979) – unverhofft, wie er in seinen Erinnerungen schreibt – eine breite Plattform und grossen Einfluss in der ansetzenden öffentlichen und politischen Debatte über Technik, Umwelt und die Verantwortung der Menschheit für die Zukunft.
PS: Jonas kannte die Schwarzen Hefte Heideggers nicht. Diese erschienen erst ab 2014 im Rahmen der Gesamtausgabe und legten Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus und seine antisemitischen Überzeugungen endgültig offen.
Jonas, H. (2023): Erinnerungen, 2. Auflage, Suhrkamp. 1. Auflage: 2003, Insel.
Pavel - 11:32 @ Philo-Blog | Kommentar hinzufügen
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