Blog zu Themen und Fragen aus der Philosophie. Schwerpunkte aktuell sind Digitale Ethik, Bildethik und Künstliche Intelligenz. Ich führe den Blog (mit Ferienpausen) in der Regel im Wochenrhythmus. Kommentare sind möglich und erwünscht.
25.06.2024
1. Mensch-Maschine-Motiv
Sofern sich KI-Narrative auf Roboter beziehen, bilden sie einen Ast im Baum des Mensch-Maschine-Motivs. In der Literaturwissenschaft wird das Motiv unter dem Titel Der künstliche Mensch zusammengefasst (Frenzel 2008: 501–512). In der Antike enden die meisten Geschichten über das Erschaffen eines künstlichen Menschen unglücklich: «Entweder sind die Meister gezwungen, ihr eigenes, gefährlich werdendes Werk zu zerstören, oder es zerstört sich selbst und oft den Schöpfer oder andere Menschen zugleich» (Frenzel 2008: 501). Eine Ausnahme bildet die Geschichte über den zyprischen Bildhauer Pygmalion, der eine Elfenbeinstatue, die wie eine lebendige Frau aussieht, erbaut und sich in sie verliebt sich. Mit Hilfe der Göttin Aphrodite wird die Galatea genannte Statue lebendig, Pygmalion heiratet sie und hat sogar Kinder mit ihr.
Im Mittelalter gilt die künstliche Erschaffung eines Menschen im jüdisch-christlichen Kontext als grundsätzlich verwerflich, da dies nur Gott vorbehalten ist. So warnt die bekannte Golem-Legende vor den Gefahren menschlicher Hybris und der Schöpfung von Leben ohne göttliche Autorität. Im Unterschied zu Galatea bleibt Golem ein seelenloses Wesen, das keine eigene Willenskraft besitzt (Frenzel 2008: 503).
Erst im Zeitalter der Aufklärung finden wir optimistische Varianten des Motivs. Der provokante Arzt Julien Offray de La Mettrie dreht das ganze Verhältnis um: In «L’Homme-Machine» (1748) postuliert er, dass der Mensch eine Maschine ist, und hält es für möglich und gut, dass «eines Tages rein mechanisch ein Androide gebaut werden würde, der stehen, gehen, sprechen und alle menschlichen Gebärden verrichten könne» (Frenzel 2008: 504).
Seit der Romantik dominieren aber wieder negative Versionen des Motivs: Frankenstein von Mary Shelley, Der Sandmann von E. T. A. Hoffmann u. a. Motivgeschichtlich betrachtet artikulieren sich Ängste gegenüber künstlichen Menschen bzw. künstlicher Intelligenz schon seit der Antike. Darum ist anzunehmen, dass sich in den negativen KI-Narrativen eine Urangst artikuliert, die man nicht einfach so – z. B. durch ein positives KI-Narrativ – zur Seite schieben kann.
2. West-Ost-Wahrnehmung von KI
Das 2018 bis 2022 durchgeführte internationale Forschungsprojekt Global AI Narratives (GAIN) untersuchte, wie verschiedene Kulturen und Regionen die Risiken und Vorteile von KI wahrnehmen, und versuchte die Einflüsse besser zu verstehen, die diese Wahrnehmungen prägen. Eines der wichtigen Ergebnisse aus dem Projekt war, dass künstliche Intelligenz bzw. Roboter in West und Ost unterschiedlich wahrgenommen werden: im Westen eher negativ-problematisierend, im Osten eher positiv-aufgeschlossen. Während Comics in den westlichen KI-Narrativen eine untergeordnete Rolle spielen, werden in Japan viele KI-Forschende vor allem von Mangas und Animes beeinflusst. KI- und Roboterfiguren werden entweder als buddy oder als extension kategorisiert. Die buddy-Figuren Astro Boy und Doraemon haben die Vorstellungen von KI und Robotern in Japan am stärksten geprägt (Quelle). Die extension-Figur Tetsujin-28 wiederum zeichnet sich dadurch aus, dass sie ausdrücklich blosses Werkzeug ist: Tetsujin ist nicht autonom, sondern ein Diener des Guten oder des Bösen, je nachdem, wer seine Fernsteuerung besitzt (Quelle).
Ein Erklärungsansatz für die unterschiedliche West-Ost-Wahrnehmung ist, dass in Japan das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine bzw. zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten graduell und als Kontinuum verstanden wird, während im Westen eine polar-dualistische Sicht (entweder Mensch oder Maschine) ohne Kontinuum bzw. Übergänge dominiert. Die polar-dualistische Sicht wurzelt im christlichen Unterbau bzw. Kontext. Trotz Säkularisierung wird im Westen die Erschaffung einer dem Mensch vergleichbaren, gleichwertigen oder gar überlegenen Intelligenz immer noch als Sakrileg verstanden.
3. Das Meta-Meta-Narrativ
Zu einer «digitalen Mündigkeit» (Noller 2024) gehört, dass wir verstehen, was generative KI ist, wie sie funktioniert und was mit ihr möglich ist (und was nicht). Prädiktive Technologien bzw. algorithmische Systeme – Begriffe, die das ungenaue Kofferwort «KI» vermeiden – können so nicht als Gegenspieler, sondern als (mögliche) Mitspieler aufgefasst werden (Hofmann 2022). Dann kann die Frage im Mittelpunkt stehen, wie diese Technologien und Systeme aus ethischem Blickwinkel entwickelt und eingesetzt werden können (vgl. z. B. Human Centered AI).
Hinter den diskutierten KI-(Meta)Narrativen versteckt sich ein Meta-Meta-Narrativ (das eine implizite Voraussetzung enthält): technologische Entwicklung bzw. Innovation als die treibende Kraft gesellschaftlicher Entwicklung anzusehen. Wir sollten diskutieren, ob tatsächlich neue Technologien die Haupttreiber gesellschaftlicher Entwicklung sind. Schreiben wir Technologien (wie z. B. aktuell generativer KI) eine zu grosse Wirkung zu? Gäbe es auch alternative Sichtweisen? Ist die Annahme eines Zusammenspiels mehrerer Triebkräfte (Innovation/Technologie, Ökonomie, Politik, Bildung/Wissenschaft) für eine adäquate Bewertung passender? To be discussed.
Bild: DALL-E prompted by PN.
Admin - 08:06 @ Philo-Blog | Kommentar hinzufügen