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Philoblog

Blog zu Themen und Fragen aus der Philosophie. Schwerpunkte aktuell sind Digitale Ethik, Bildethik und Künstliche Intelligenz. Ich führe den Blog (mit Ferienpausen) in der Regel im Wochenrhythmus. Kommentare sind möglich und erwünscht.


02.05.2024

Das Kunstwerk im Zeitalter digitaler Generierbarkeit

Im Zusammenhang mit KI-Kunst lässt sich auch Walter Benjamins These vom Verlust der Aura des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit in Anschlag bringen. Meinte Benjamin vor über hundert Jahren, dass das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit seine Aura verliere, so wäre aktuell zu überlegen, ob das menschengemachte Kunstwerk im Zeitalter der digitalen Bild-Generierbarkeit seine Aura wiedergewinnt.

In einem aktuellen Essay finde ich folgende fiktive Szene:

«Kunstunterricht 2084: Auf ihrem virtuellen Rundgang erfahren die Schüler:innen der 8b, dass Claude Monet das Bild Seerosenteich gemalt hat, Kichernd fragt eine Schülerin, ob Monet die Beta-Version einer KI war, da das Bild so schlecht gemalt sei: lauter Punkte, blasse Farben, keine räumlichen 3D-Effekte.» (Winter 2024: 6)

Die fiktive Szene «Kunstunterricht 2084» rief mir die nicht-fiktive Anekdote in Erinnerung, dass Dostojewski nach dem Besuch des Basler Kunstmuseums und der Konfrontation mit Hans Holbeins (d. J.) «Der Leichnam Christi im Grabe» gemeint haben soll, vor Holbeins Gemälde könne man ohne Weiteres seinen Glauben verlieren.

Funfact: Der «Seerosenteich» (im Original «Le Bassin aux Nymphéas») war seit seiner Entstehung 1919 nur einmal öffentlich zu sehen. Am 24. Juni 2008 wurde das Werk bei Christie’s in London für 40,9 Mio. Britische Pfund an einen Privatmann versteigert und kann zurzeit nicht besichtigt werden. Das kann sich bis 2084 natürlich wieder ändern 😉

Mit Rückgriff auf Benjamins Aura-These schwebt mir folgende (fiktive) Version «Kunstunterricht 2084» vor:

Steve Ballmer, seit 2000 einer der reichsten Menschen der Welt, investiert sein Vermögen auch in impressionistische Gemälde und ist (wie sich nach seinem Ableben herausstellen wird) der anonym bleibende Privatmann, der 2008 Monets Seerosenteich für 40,9 Mio. Pfund gekauft hat. Seine Enkelin Claudia Ballmer, die ein Faible für moderne Kunst hat, erbt die in der Zwischenzeit weltberühmte Impressionistensammlung ihres Grossvaters. Als Philanthropin verwandelt sie die Ballmer-Galerie in eine öffentlich zugängliche Sammlung und lädt regelmässig Familien, Schulklassen und Jugendgruppen in ihre Galerie ein, weil sie die Schönheit der impressionistischen Gemälde vor allem Kindern und Jugendlichen zugänglich machen will, die – seit der Flutung der Bildwelt ab etwa Mitte des 21. Jahrhunderts durch kostengünstig generierte KI-Bilder – in einer sterilen Bildwelt aufwachsen. Immer wieder kommt es gerade vor dem Bild Seerosenteich zu anrührenden Szenen, als Kinder und Jugendliche, teilweise erstmals in ihrem Leben, mit der sensorischen Wucht eines analogen Gemäldes konfrontiert werden.

Pavel - 15:49 @ Philo-Blog | Kommentar hinzufügen

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