Blog zu Themen und Fragen aus Philosophie und Kultur. Ich poste hier circa einmal im Monat.
27.01.2025
Die systematische Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten (und ihre Helfershelfer) zwischen 1933 und 1945 in Europa war eine unvorstellbare menschliche und moralische Katastrophe. Wie kann man sich von so Unfassbarem eine Vorstellung machen, wie kann man etwas so Monströses in Sprache resp. in Begriffe fassen? Was sich in der massenhaften Verfolgung, Entmenschlichung und Ermordung von Millionen von Menschen mitten in Europa manifestiert hat, entbehrt im Grunde genommen einer Versprachlichung.
Die UNO führte 2005 den «International Holocaust Remembrance Day» am 27. Januar zum Gedenken an den Holocaust und den 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau ein – am 27. Januar 1945 war das Lager von der Roten Armee befreit worden. Der Gedenktag ist eines der zahlreichen Elemente in der Holocaust-Erinnerungskultur, die einerseits der Opfer gedenken will, andererseits durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verhindern will, dass sich solche Verbrechen wiederholen.
Trotz der Monstrosität des Holocaust fand – so Niklas Frank, der jüngste Sohn des im Oktober 1946 hingerichteten Kriegsverbrechers Hans Frank, dem «Schlächter von Polen» – das «Grosse Erschrecken» in Deutschland nicht statt. Nach Kriegsende konzentrierte man sich darauf, ein kriegsversehrtes Land wieder ‹auf die Beine› zu bringen und der Bevölkerung ein Leben mit Perspektive zu ermöglichen. Erst der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem 1961 und die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main (1963–65, 1965–66, 1967–69) brachten mehr Wissen über den Holocaust in die deutsche Öffentlichkeit. Wiederum zehn Jahre später sorgte die Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss 1979 im deutschen Fernsehen für ein breiteres Bewusstsein. Ich kann mich noch gut daran erinnern, welchen Schock die Serie bei mir als 15-Jähriger auslöste. Ich kannte zwar Fotos der Konzentrationslager und der Leichenberge aus Geschichtsbüchern, aber das Nacherleben des Holocaust anhand einer Familiengeschichte ging mir sehr nahe. Erst nach der Ausstrahlung der Serie bürgerte sich übrigens im Deutschen der Begriff «Holocaust» ein.
Wie hat die Philosophie auf den Holocaust reagiert? Der Holocaust fordert die Philosophie tiefgreifend in folgenden Bereich heraus (Auswahl):
• In der Sprachphilosophie wird die Unzulänglichkeit der Sprache, das Grauen des Holocaust auszudrücken, thematisiert.
• In der Ethik werden die Grenzen der menschlichen Moral und die Möglichkeit des radikal Bösen diskutiert.
• In der Geschichtsphilosophie wird der Holocaust als «Zivilisationsbruch» (Dan Diner) und Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte interpretiert; die Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschritts der Menschheit ist grundlegend erschüttert.
• In der Anthropologie wird die Vorstellung vom Menschen als grundsätzlich vernunftbegabtem und moralischem Wesen in Frage gestellt, die Möglichkeit des Menschen zu extremer Grausamkeit und Unmenschlichkeit rückt in den Fokus. Das Menschenbild nach Auschwitz kann nicht mehr das gleiche wie vor Auschwitz sein.
Wie der Holocaust von Philosophinnen und Philosophen in ihr Denken ‹aufgenommen› worden ist, sei hier an zwei unterschiedlichen Denkern exemplarisch und in aller Kürze dargelegt: Hannah Arendt und Emmanuel Levinas.
Hannah Arendt (1906–1975) fokussierte auf die politischen und gesellschaftlichen Mechanismen, die den Holocaust ermöglichten. Sie prägte den Begriff der «Banalität des Bösen» in ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess (1963). Sie betonte damit, dass die Nazis (in der grossen Masse) keine Monster, sondern ganz normale Menschen waren, die – ganz banal – Befehle empfingen und ‹ihre Pflicht› taten. Zudem analysierte sie die Strukturen totalitärer Herrschaft und sah den Holocaust als Ausdruck der destruktiven Möglichkeiten unserer Zivilisationsgeschichte und kritisierte die Tendenz, den Holocaust als ‹Rückfall in die Barbarei› abzuspalten, und betonte stattdessen die Notwendigkeit, sich mit den zivilisatorischen Bedingungen auseinanderzusetzen.
Im Unterschied zu Arendt ist in der Philosophie des aus Litauen stammenden jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas (1905–1995) der Holocaust kein explizites Thema, sein Denken ist aber von der Erfahrung des ‹Holocaust-Horrors› durchdrungen. Für Levinas, der in deutscher Kriegsgefangenschaft den Krieg überlebte (während der Grossteil seiner Verwandtschaft in Litauen von den Nazis ermordet wurde), wird angesichts des Holocaust die Ethik zur Ersten Philosophie. In seiner Ethik betont er die unbedingte Verpflichtung gegenüber dem Anderen, die jeder Ontologie vorausgeht, was als Gegenentwurf zur Entmenschlichung der Opfer im Holocaust gesehen werden kann. Auch seine Konzepte von «Alterität» und der «Unendlichkeit des Anderen» kann man als philosophische Verarbeitung der Erfahrung des Völkermords interpretieren.
Beide Denker reagierten auf den Holocaust, indem sie traditionelle philosophische Konzepte in Frage stellten. Während Arendt sich auf politische und gesellschaftliche Analysen konzentrierte, entwickelte Levinas eine radikale Ethik der Verantwortung. Beide sahen im Holocaust eine fundamentale Herausforderung für das westliche Denken und die Notwendigkeit, neue Wege des Verstehens und der ethischen Orientierung zu finden.
Pavel - 09:40 @ Philo-Blog | Kommentar hinzufügen