Blog zu Themen und Fragen aus Philosophie und Kultur. Ich poste hier circa einmal im Monat.
20.11.2024
Seit 1977 sind die beiden Voyager-Sonden unterwegs. In der Zwischenzeit verliessen sie die Heliosphäre und sind aktuell die am weitesten von der Erde entfernten menschlichen Artefakte im Weltraum. An Bord neben vielen Apparaturen: «The Golden Record».
«Golden Record»: Eine 30 cm breite, vergoldete Kupferplatte, auf der die Daten gespeichert sind, die sozusagen die interstellare Visitenkarte des Planeten Erde bzw. der dort seit ca. fünftausend Erdrotationen dominierenden Spezies Homo sapiens sapiens darstellen sollen:
• 116 Bilder (analog gespeichert, u. a. die Erde und andere Planeten unseres Sonnensystems, Anatomie des Menschen inkl. Geschlechtsorgane, eine stillende Mutter etc.)
• gesprochene Grüsse (in 55 Sprachen, u. a. auch in Deutsch)
• Geräusche (wie Wind, Donner und Tiergeräusche)
• 90 Minuten Musik (neben ethnischer Musik Stücke von Bach, Beethoven, Mozart, Chuck Berry, Louis Armstrong u. a.)
• eine geschriebene Nachricht (des amtierenden US-Präsidenten Jimmy Carter, *1924)
• eine Audiobotschaft (des damaligen UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim, 1918–2007).
Die Auswahl der Daten erfolgte durch ein Forscherteam, das der Astrophysiker Carl Sagan (1934–1996) leitete. Das Team verstand die Datenplatten, die nicht mehr als 538 MB fassen konnten, als interstellare Zeitkapsel.
Auf der Vorderseite der Golden Record findet sich eine Art Gebrauchsanleitung und eine Karte, die die Position der Sonne in Relation zu 14 Pulsaren zeigt – im Falle des Falles, dass eine aussermenschliche Spezies die Daten erfolgreich decodiert und uns innerhalb der nächsten 500 Mio. Jahre (geschätzte Haltbarkeit der Platten) besuchen möchte (der 2018 verstorbene Physiker Stephen Hawking sah diese Besuchs-Option sehr kritisch).
Interstellare Visitenkarte menschliche Zivilisation, Stand 1977 n. u. Z., also:
• OHNE Internet, Web 2.0, soziale Medien, Mobiltelefonie, Smartphone, Big Data etc.
• OHNE Michael Jackson, Amy Winehouse, «Pulp Fiction», «LOTR», «Titanic» u. a.
• OHNE Globalisierung, schrumpfende Gletscher und abnehmende Biodiversität
• OHNE generative KI, LLM, ChatGPT u. a.
• OHNE Nanotechnologie, Quantencomputer, Elektroautos u. a.
Fragen:
Wie würde sich die Menschheit heute – Stand 2024 – präsentieren?
Wer kann heute überhaupt für die ganze Menschheit sprechen?
Und was stünde auf der Visitenkarte? (Der beschränkte Speicherplatz von 1977 war vielleicht eher ein Vorteil)
Müsste auf einer neuen Golden Record nicht ein ehrliches, komplettes Bild der Menschheit gespeichert werden? Also (subjektive Auswahl) inklusive Hexenverfolgung, Kolonialisierung und Imperialismus, Holodomor, Holocaust, Hiroshima und Nagasaki, Biafra, Bhopal, Tschernobyl usw.?
PS: Falls keine neuen Visitenkarten der Menschheit ins All geschickt werden und die beiden Golden Records die menschliche Zivilisation überleben (was bei einer Haltbarkeit von 500 Mio. Jahren sehr wahrscheinlich ist), werden sie die beiden einzigen Artefakte sein, die von der menschlichen Zivilisation (wenigstens für 500 Mio. Jahre) erhalten bleiben: 116 Bilder, 55 Grüsse, ein paar Geräusche, eineinhalb Stunden Musik, ein präsidialer Text und eine kurze Ansprache in Englisch mit österreichischem Akzent.
[Anthropologie #2]
Pavel - 12:06 @ Philo-Blog | Kommentar hinzufügen