Im Rahmen meiner Recherche zu philosophischen Stimmen zum Holocaust (siehe meinen Beitrag vom 27.01.2025) fiel mir auf, dass vier jüdische Denker, die auf den Holocaust reagieren, nicht nur fast deckungsgleiche Lebenszeiten, sondern auch andere biographische Parallelen haben. Sie repräsentieren eine Generation jüdischer Intellektueller, deren Leben und Werk durch die grossen Umwälzungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts geprägt sind. Sie gehören aber nicht zu den ‹Star-Intellektuellen› ihrer Zeit wie Hannah Arendt (1906–1975), Theodor W. Adorno (1903–1969), Max Horkheimer (1895–1973) oder auch Karl Popper (1902–1994), sondern bekommen erst spät in ihrem Leben Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit für ihre Ideen:
Günther Anders (geb. Stern): 1902–1992, geboren im schlesischen Breslau.
Hans Jonas: 1903–1993, geboren im niederrheinischen Mönchengladbach.
Manès Sperber: 1905–1984, geboren im galizischen Sabolotiw.
Emmanuel Levinas: 1906–1995, geboren im litauischen Kaunas.
1. Emigration und Exil: Alle vier Lebensläufe verliefen nicht stromlinienförmig, sondern in Brüchen und Serpentinen. In einer Rückschau bekennt Günther Anders, er habe gar keine Biographie, sondern lediglich fragmentierte Vitae, mehr oder weniger miteinander verbundene Lebensabschnitte. Alle vier sind sie gegen dreissig Jahre alt, als die Nationalsozialisten an die Macht kommen: Anders ist 31, Jonas 30, Sperber 27, Levinas 26. Alle verlassen ihre Heimat. Jonas verlässt Deutschland 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Richtung London, wandert 1935 nach Israel aus, zieht 1949 nach Kanada und schliesslich 1955 in die USA. Sperber, der in Wien bei Alfred Adler studiert, wird von diesem nach Berlin geschickt, dort wird er 1933 verhaftet, aber weil er einen österreichischen Pass hat, wieder freigelassen; er flieht über Wien und Jugoslawien nach Frankreich, von dort 1942 in die Schweiz, nach dem Kriegsende geht er zurück nach Paris. Anders und Levinas haben ihre Heimat für ihr Studium verlassen, sind später nie zurückgekehrt. Alle sterben in einem neuen Land: Anders (mit österreichischem Pass, nachdem er seinen US-amerikanischen Pass wohl abgegeben hatte) in Wien, Jonas (mit US-amerikanischem Pass) in einem Vorort von New York, Sperber (mit österreichischem und französischem Pass) und Levinas (mit französischem Pass) in Paris.
2. Holocaust: Alle vier verlieren im Holocaust Familienangehörige oder Verwandte und kämpfen als Überlebende mit Schuldgefühlen. Anders verliert zahlreiche Familienmitglieder und Verwandte im Holocaust. In seinen Schriften thematisiert er diese Verluste als Teil der «Auslöschung einer Generation» durch den Nationalsozialismus. Jonas verliert seine Mutter, Rahel Jonas. Sie wird 1942 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und ermordet. Jonas, der 1933 nach Palästina emigriert, kann seine Mutter nicht retten – eine Schulderfahrung, die ihn später zur Formulierung des Prinzips Verantwortung motiviert. In einem Brief an die befreundete Hannah Arendt schreibt er: «Die Schuld, überlebt zu haben, wo so viele andere starben, trieb mich dazu, eine Ethik zu entwickeln, die das Überleben der Menschheit sichern soll.» Sperbers gesamte engste Familie wird Opfer im Holocaust. Seine Eltern, Schwestern und weitere Verwandte werden in den Vernichtungslagern ermordet. Sperber verarbeitet diesen Verlust in seiner autobiografischen Trilogie Wie eine Träne im Ozean (1961): «Das Schweigen der Toten lastete auf mir – ich musste ihre Stimmen durch mein Schreiben am Leben erhalten.» Levinas’ Eltern und Geschwisterin Litauen werden von den Nationalsozialisten ermordet. Seine Frau Raissa und Tochter Simone überleben nur knapp: Sie verstecken sich in einem französischen Kloster, nachdem Levinas selbst als Kriegsgefangener in einem deutschen Arbeitslager inhaftiert ist. In seinem Werk Schwierige Freiheit (1963) reflektiert er die Erfahrung des Überlebens: «Das Antlitz des Anderen erinnert mich an das Gesicht meiner Mutter, das ich nie wiedersehen durfte.»
3. Der Freiburger ‹Wunderrabbi›: Alle vier wenden sich nach anfänglicher Faszination von Martin Heidegger ab, dem dominierenden ‹Meisterdenker› ihrer Zeit (siehe meinen Beitrag zu Hans Jonas, 14.10.2024). Der Begriff ‹Wunderrabbi› spielt ironisch auf die Tatsache an, dass Heidegger trotz seiner später offensichtlich gewordenen antisemitischen Position und seiner Verstrickung mit dem Nationalsozialismus eine starke, fast dämonische Anziehungskraft auf jüdische Intellektuelle ausübte. Anders warf seinem ehemaligen Lehrer vor, es fehle ihm an einer «Auschwitz angemessenen Philosophie». Jonas, der bei Heidegger doktoriert hatte, kritisierte dessen «existenziellen Nihilismus». Levinas, für den Heidegger mit seinem unvollendeten Hauptwerk Sein und Zeit eine der grössten philosophischen Leistungen des 20. Jahrhunderts vollbracht hatte, positionierte Ethik ausdrücklich als Erste Philosophie gegen Heideggers Privilegierung des Seins. Sperber hatte keinen direkten Schüler-Lehrer-Bezug zu Heidegger, kritisierte aber, dass in dessen Denken die moralische Dimension fehle und so in totalitären Zeiten keine Basis für Verantwortung geben könne.
4. Akademische Outsider mit Mosaik-Karrieren: Sie sind alle vier akademische Outsider bzw. bewegen sich – mindestens phasenweise – bewusst fern vom akademischen Mainstream. Alle vier haben in Folge von Flucht und Exil nicht-lineare Karriereverläufe (‹Mosaik-Karriere›). Anders lehnt zwei Berufungen (u. a an die FU Berlin) ab. Jonas erhält erst mit 53 Jahren (1955) eine Professur an der New School for Social Research in New York und lehrt dort bis 1976. Levinas beginnt mit 55 Jahren (1961) an der Universität Poitiers zu lehren, wechselt 1967 an den Nanterre-Campus der Universität Paris und erhält schliesslich in seinem 67. Lebensjahr (1973) eine Professur an der Sorbonne, wo er bis zu seiner Emeritierung im 71. Lebensjahr (1979) lehrt. Sperber verkehrt nicht im akademischen, sondern im künstlerischen und politischen Milieu, er schätzt die Unabhängigkeit seines Denkens und Schreibens abseits akademischer Diskurse.
5. Späte Wirkung: Alle vier gehören nicht zu den ‹Star-Intellektuellen› ihrer Zeit, sind lange im Windschatten der grossen Debatten ihrer Zeit unterwegs und bekommen erst spät in ihrem Leben Aufmerksamkeit und Präsenz in der Öffentlichkeit. Das Prinzip Verantwortung, in der Jonas eine neue Ethik für das technologische Zeitalter entwickelt, erscheint 1979, als Hans Jonas 76 Jahre alt ist. Es macht ihn schlagartig einem grösseren Publikum bekannt, weil es zu einem Zeitpunkt erscheint, als das Bewusstsein für Umweltprobleme und die Folgen technologischen Fortschritts in der Gesellschaft zunimmt. Anders publiziert 1980, in seinem 78. Lebensjahr, den zweiten Band seines Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen mit dem Titel Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. Seine Thesen treffen den Nerv der Zeit, als das Bewusstsein für die Gefahren der Technisierung und Umweltprobleme in der Gesellschaft zugenommen hat. Sperber, der nach der Veröffentlichung der deutschen Fassung seiner autobiographischen Trilogie Wie eine Träne im Ozean (1961) zuerst ein grosses Echo bekommt (die französische Fassung war bereits 1949/1952 erschienen), erhält erst 1975 in seinem 70. Lebensjahr den Georg-Büchner-Preis, 1977 den Grossen Österreichischen Staatspreis für Literatur und 1983 mit 78 Jahren den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Levinas’ Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität war 1961 erschienen. Seine Philosophie wird aber erst in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren bekannt, als das Bewusstsein für ethische Fragen und die Kritik an totalitären Systemen wächst. Levinas’ Fokus auf die Verantwortung gegenüber dem Anderen und seine Kritik an der Totalität trafen nun auf ein aufnahmebereites Publikum.
6. Ethik nach dem Zivilisationsbruch: Alle vier zeigen über ihre individuellen philosophischen Unterschiede hinweg eine kritische Haltung gegenüber den existenziellen Bedrohungen durch die Moderne. Angesichts entmenschlichender politischer Systeme und der Fragilität zivilisatorischer Normen setzt sich ihr Werk mit der moralischen Verantwortung von Individuen und Gesellschaften auseinander. Alle vier nehmen in ihrem Denken Bezug auf den Holocaust, wollen eine neue Ethik initiieren. In einer Zeit extremer politischer und sozialer Umbrüche entwickeln sie philosophische Positionen, die bis heute für das Verständnis der menschlichen Existenz in einer technologisierten Welt angesichts historischer Katastrophen in Anschlag gebracht werden können.
In einem meiner nächsten Blog-Beiträge werde ich näher auf die Ethik nach dem Zivilisationsbruch eingehen.
PS: Hans Jonas und Günther Anders hatten sich als Studenten 1922 in Berlin kennengelernt und blieben über Jahrzehnte befreundet. Anders war von 1929 bis 1937 mit Hannah Arendt verheiratet, die wiederum mit Jonas eine lebenslange Freundschaft pflegte. Alle drei verkehrten in den 1920er Jahren im Heidegger-Kreis, zu dem 1927 auch Emmanuel Levinas stiess. Interessant: Sperber und Levinas lebten nach dem Zweiten Weltkrieg fast vierzig Jahre simultan in Paris, sind sich aber anscheinend nie begegnet.