Blog Dies ist der Blog von Pavel Novak. Er enthält Beiträge zu aktuellen Themen und manchmal auch Ad-hoc-Gedanken. Dr. Pavel Novak ist Philosoph, Germanist und Bildungswissenschaftler. Seit 2023 ist er in der eigenen Firma Sinnkultur GmbH unterwegs. Seine Schwerpunkte sind Kulturphilosophie, Digitalisierung, Medienethik bzw. Digitale Ethik und Bildung. Er betreut Lehraufträge an Hochschulen, gibt Kurse in der Berufswelt und moderiert philosophische Cafés. česky |
29.10.2025
Internet: Von der Verheissung zur grossen Ernüchterung
Wenn sich das Weltwirtschaftsforum (WEF) nächsten Januar zu seinem 56. Jahrestreffen in Davos einfindet, wird es 30 Jahre her sein, dass 1996 am Rande des damaligen 26. Jahrestreffens der US-amerikanische Bürgerrechtler und Grateful-Dead-Songtexter John Perry Barlow (1947–2018) seine Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace publizierte. Barrlows Erklärung steht für die verheissungsvollen Utopien des Internets in seinen Anfängen. Diese wurden von Vorstellungen geprägt, dass das Netz zu Demokratie, globaler Verständigung und uneingeschränkter Informationsfreiheit führen würde: «We are creating a world that all may enter without privilege or prejudice accorded by race, economic power, military force, or station of birth» (ebda.).
Ich war damals in meinen frühen Dreissigerjahren als frischgebackener Dozent fasziniert von den breiten Kommunikationsmöglichkeiten und den vielen Wissensquellen in der weiten digitalen Welt, liess mich von der Euphorie anstecken und glaubte den Visionären, das Netz könne demokratische Prozesse stärken, politische Teilhabe fördern und soziale wie kulturelle Grenzen überwinden. Aber dann kamen Google (1998), Facebook (2004), YouTube (2005), Instagram (2010) und viele andere. Und die hatten ganze andere ‹Visionen›.
Viele Utopien sind heute, dreissig Jahre später, einer grossen Ernüchterung gewichen: Das Internet ist ambivalent, bleibt zwar Motor für Innovation und Kommunikation, birgt aber auch grosse Risiken für Demokratie, Privatheit und gesellschaftliche Kohärenz. Von der ersehnten digitalen Revolution ist ein Teil Realität geworden, doch die Schattenseiten sind inzwischen ebenso offensichtlich wie die Potenziale. Im (mit Hilfe von Perplexity erstellten) Realitätscheck zeigt sich heute, dass sich die meisten Hoffnungen nur teilweise oder gar nicht erfüllt haben:
Der Auftritt von Jaron Lanier (*1960) am 44. Jahrestreffen des WEF 2014 kann als Gegenstück zu Barlow 1996 angesehen werden. Lanier warnte vor den gravierenden Folgen der sogenannten Gratiskultur im Internet und vor der Machtkonzentration weniger grosser Plattformen wie Google, Facebook und Amazon. Er kritisierte das Geschäftsmodell, bei dem Nutzer mit dem Versprechen von ‹Freiheit› und ‹Gratisdiensten› angelockt werden, während sie in Wahrheit permanent überwacht und ihre Daten für Werbung und Manipulation verwendet werden. Lanier warnte zudem davor, dass das Netz zum Herrschaftsinstrument werden könnte, das einigen wenigen die Macht gibt, Milliarden zu kontrollieren und auszubeuten. Spätestens der NSA-Skandal 2013 und der Skandal rund um Cambridge Analytica 2018 machten bewusst, dass das Internet ein Ort massiver Überwachung und Machtpolitik geworden ist.
Das Internet ist aber nicht nur in Hinblick auf Datenschutz ethisch problematisch, sondern bringt eine breite Palette gesellschaftlich-ethischer Herausforderungen mit sich: Internetsucht bzw. digitale Abhängigkeit, Cybermobbing und Hassrede, Fake News und Desinformation, Identitätsdiebstahl, Betrug und Manipulation, Stalking und Grooming, Verlust der informationellen Selbstbestimmung, Gesundheitsgefahren und verzerrte Selbstwahrnehmung, Schadsoftware und Botnetze, Urheberrechtsverletzungen und Online-Rechtsverstösse bis hin zur ungleichen Teilhabe (Digital Divide) u. v. a. m.
Das Internet bzw. die digitale Transformation haben sich neben ethischen Fragen generell zu einem wichtigen philosophischen Thema entwickelt. Das Internet ist für die Philosophie zugleich Herausforderung, Gegenstand und Werkzeug. Es beeinflusst neben der Ethik auch die Erkenntnistheorie, die politische Philosophie und auch das Selbstverständnis des Menschen (Anthropologie). Zurzeit bildet sich in der (Fach-)Philosophie überhaupt erst eine Terminologie zur Digitalisierung heraus: Statt Internet kann auch von «Infosphäre» (Floridi 2015), «Environmentalität» (Hörl 2011), «Sphäre des Digitalen” (Gramelsberger 2023), «Turing-Galaxis» (Coy 1993), «ubiquitous computing» (Weiser 1991) oder auch «Metaversum» (Stephenson 1992) gesprochen werden – ein allgemein akzeptierter (Fach-)Begriff hat sich noch nicht etabliert. Interessante fachphilosophische Beiträge im deutschsprachigen Bereich sind aktuell Gramelsberger («Philosophie des Digitalen», 2023) oder Krämer/Noller («Was ist digitale Philosophie?», 2024). Für mich persönlich ist die genuin anthropologische Frage Was passiert mit dem Menschen in der Digitalisierung? die interessanteste für die Philosophie. Da will ich am Ball bleiben.
Pavel - 17:25 @ Philo-Blog | Kommentar hinzufügen

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