18.06.2025
Meinen letzten Post zum Thema Heimweh schrieb ich in der Woche, in der das Lötschentaler Dorf Blatten nahezu vollständig unter einer Lawine aus Fels, Schutt und Eis begraben wurde. Rund 90 Prozent der Gebäude wurden zerstört, die Landschaft massiv verändert und der Zugang zum Tal unterbrochen. Für diesen Totalverlust den Begriff ‹Heimweh› oder ‹Nostalgie› zu verwenden, wirkt unpassend. Was die Blattnerinnen und Blattner erlebten, muss als extreme Form von Solastalgie bezeichnet werden.
Der australische Naturphilosoph Glenn Albrecht prägte diesen Begriff – zusammengesetzt aus solatium (lat. Trost) und -algia (altgriech. Schmerz), um das Gefühl des Verlusts und der Trauer zu bezeichnen, das entsteht, wenn Menschen die Veränderung oder Zerstörung ihrer Heimat oder ihres Lebensraums direkt miterleben. Im Gegensatz zur Nostalgie, die sich auf die Vergangenheit bezieht, richtet sich Solastalgie auf die Gegenwart oder Zukunft. Ausgelöst werden kann Solastalgie sowohl durch natürliche Ereignisse wie Überschwemmungen, Dürren oder Brände als auch durch menschengemachte Einflüsse wie Krieg, Terrorismus, Abholzung, Bergbau oder die Gentrifizierung historischer Stadtviertel.
Solastalgie ist also Heimweh, das man empfindet, obwohl man (noch) zu Hause ist. Albrecht beobachtete dieses Phänomen bei Menschen im australischen Hunter Valley im Bundesstaat New South Wales, die durch den Kohletagebau ihre gewohnte Landschaft und damit ein Stück ihrer Identität verloren. Solastalgie ist eng verbunden mit Gefühlen von Machtlosigkeit, Trauer und dem Wunsch, die eigene Umgebung als Quelle von Trost und Geborgenheit zu bewahren. Eigentlich wünschen sich die Blattnerinnen und Blattner nicht, ihr Dorf Haus für Haus wieder aufzurichten, sondern sie möchten die Quelle ihres Trostes und ihrer Geborgenheit wiederherstellen.
Lässt sich Albrechts Begriff auch anwenden, wenn in meiner Nachbarschaft ein Hochhaus hochgezogen, auf meinem Lieblingsberg eine Windanlage aufgerichtet oder wenn im Naherholungsgebiet hinter meinem Hausberg (Projekt Nördlich Lägern) Atomabfall vergraben werden soll? Wo fängt Solastalgie an, wo hört sie auf? Ich nehme an, dass Solastalgie als Kontinuum angesehen werden kann: von leichter Verunsicherung (bei grösseren Bauprojekten) bis zur existenziellen Trauer (wie im Fall von Blatten). Entscheidend ist die psychologische Wirkung: Wo immer Heimat als Quelle des Trostes zerstört wird, kann sich Solastalgie einstellen.
Eine Jugenderinnerung aus Wettingen, 1980er Jahre: Auf der anderen Strassenseite in unserem Quartier standen zwölf putzige Werkmeisterhäuschen, die den Vorarbeitern der ehemaligen Baumwollspinnerei als Heim dienten. Man nannte sie die «12 Apostel», und sie waren für uns Kinder, die in einem Block wohnten, der Inbegriff von romantischem Wohnen. Im Zuge einer Neuüberbauung wurden alle Apostel bis auf einen abgerissen. Vom Balkon aus konnten wir live zusehen, wie die Häuschen von Abrissbirne und Presslufthammer eines nach dem anderen in kurzer Zeit zerlegt wurden. Als kleiner Trost gedacht war wohl die Aktion des Wettinger Künstlers Andy Wildi (1949–2025), der auf einer Seitenfassade auf einem der in der Folge hochgezogenen Blöcke (genau auf der Höhe unseres Balkons) eines der Werkmeisterhäuschen in Form einer riesengrossen Wandmalerei verewigte. Gebannt schauten wir der Pinselarbeit des Künstlers zu, die viel länger als das Werk der Abrissbirne dauerte. Das ist nun über vierzig Jahre her, und Wildis Werkmeisterhäuschen schwebt noch immer am gleichen Ort. Der Abriss der putzigen Häuschen erinnerte mich damals an ein Schulerlebnis. Im Unterricht an der Oberstufe präsentierte und besprach ein Lehrer mit uns die Mappe Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder oder Die Veränderung der Landschaft (1973) des Schweizer Künstlers Jörg Müller. Die Mappe mit sieben Bildtafeln, die alle immer den Landschaftsausschnitt präsentieren, zeigen unerbittlich, wie ein idyllisches Landstädtchen (namens «Güllen» – leise Ironie) Schritt für Schritt (6. Mai 1953 bis 3. Oktober 1972) einer urbanen und öden Betonlandschaft mit einer Schnellstrasse in der Bildmitte weicht. Die Bildtafeln machten mir erstmals und schockhaft bewusst, wie Urbanisierung und Umweltzerstörung aussehen. Wenige Jahre später sah ich die Arbeit des Presslufthammers vom eigenen Balkon aus. Es war nicht das letzte Mal.
Heimat – bzw. das, was Menschen als Heimat empfinden – kann man also auch verlieren, ohne dass man sie verlässt. Solastalgie stellt sich aber nur dann ein, wenn Menschen äussere Orte als ihre ‹Heimat› verstehen bzw. empfinden. Gemäss aktuellen Meldungen soll Blatten als neues Dorf in zwei erhaltenen Weilern sowie Teilen des alten Dorfkerns wieder entstehen. Ob das, was die etwas mehr als 300 Blattnerinnen und Blattner als Heimat empfinden, so rekonstruiert werden kann? Auf jeden Fall scheinen in der Schweiz genügend Ressourcen vorhanden, um das Heimweh der Blattnerinnen und Blattner zu behandeln.
Foto: Autor.
Pavel - 13:37 @ Philo-Blog | Kommentar hinzufügen
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