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Weil Kultur Sinn macht


Blog zu Themen und Fragen aus Philosophie und Kultur. Ich poste hier ca. einmal im Monat.

30.04.2025

Heimat und Heimatlosigkeit

tumbleweed.jpgBesuche in meiner Geburtsstadt Prag (wie jetzt im April) aktivieren immer wieder die Frage nach meiner Heimat. Irgendwie fühle ich mich in beiden Ländern, Sprachen und Kulturen zu Hause – und irgendwie in beiden auch nicht wirklich.

Viele reden beim Thema Heimat von Wurzeln, als seien wir Bäume, die sich einwurzeln und nicht fortbewegen können. Doch die Wurzel-Metapher ist falsch: Menschen sind mobile Wesen, sie bilden keine Wurzeln. Sie sind, um in der pflanzlichen Metaphorik zu bleiben, wenn überhaupt dann mit den Steppenläufern (tumbleweeds) vergleichbar, die wir als ikonische Elemente aus Westernfilmen kennen. Vom Wind getrieben rollen sie durch die Steppe, bleiben zufällig irgendwo liegen, bis sie der Wind wieder weiterrollt.

Das Heimat-Konzept scheint etwas spezifisch Deutsches zu sein, ein Konzept, für das es in anderen Sprachen kein Pendant gibt. Das englische Wikipedia meint dazu:

“Heimat (German: [ˈhaɪmaːt] ⓘ) is a German word translating to ‘home’ or ‘homeland’. The word has connotations specific to German culture, German society and specifically German Romanticism, German nationalism, German statehood and regionalism so that it has no exact English equivalent.”

Aus philosophischem Blickwinkel dünkt mich offensichtlich, dass Geburtsort und Abstammung kontingente Faktoren sind, die moralisch nicht relevant sein sollten. Statt politisch, rechtlich, national oder geographisch möchte ich Heimat sensorisch konzipieren. Das ist der Ausstellung Heimat 2017/18 im Stapferhaus Lenzburg wunderbar gelungen, zum Beispiel mit der Frage Wie riecht deine Heimat? Die Videos mit ausgewählten Interview-Personen zu dieser Frage haben mich sehr berührt.

Der vor dem Nationalsozialismus in die Schweiz geflüchtete tschechisch-jüdische Schriftsteller, Schauspieler und Theaterregisseur Peter Lotar (1910–1986) legte in einer Rede dar: “Was bedeutet Heimat? Ein Haus, eine Stadt, ein Land? Es ist etwas, worin man sich einwurzeln kann. Zum Unterschied von Bäumen und Pflanzen, so sehr ich sie liebe, ist es nicht die Erde. Ein Mensch kann sich nur einwurzeln in anderen Menschen.” Wenn ich jetzt mit über sechzig zurückblicke, so habe ich mich als Migrantenkind bei meinen Eltern zu Hause gefühlt. Da beide in der Zwischenzeit verstorben sind, hat sich dieses Heimat-Gefühl aufgelöst, und manchmal denke ich mit Wehmut an die unwiederbringliche Kokon-Zeit zu viert in der emigrierten Kleinfamilie (mit meinen Eltern und meiner Schwester). Als Ehemann und Vater habe ich aber ein neues Kokon geschaffen und mich in meiner Familie eingewurzelt.

Ein Gefühl von Zuhause habe ich an Orten, an denen ich mehr spüre, mich aufgehoben fühle, zur Ruhe komme und von denen ich ‹aufgeladen› zurückkehre. Zum Beispiel einzelne Orte im Kettenjura. Oder das Zervreila-Hochtal im Valsertal. Oder die Halbinsel Kampa und der Paradiesgarten (Rajská zahrada) in Prag. Einige reden von ‹Kraftorten›. Die Kelten sprachen (anscheinend) von ‹dünnen Orten› – dieser Begriff gefällt mir besser.

Beeinflusst von Zen habe ich mir vor einiger Zeit die Aussage zurechtgelegt, ich sei in meiner Heimatlosigkeit zu Hause. Das soll nicht nur abgeklärt tönen, sondern mir wohl auch eine Art Schutzschild gegenüber allzu patriotischen Emotionen geben. Stimmen, die sich unverhohlen und mit geschwollener Brust einer Heimat verpflichtet fühlen, irritieren mich. Ich habe Mühe nachzuvollziehen, wie jemand darauf stolz sein kann, zufällig an einem Ort, in einer Sprache, in einer Kultur geboren worden zu sein. Für den Philosophen Emmanuel Levinas (1906–1995) spielt im jüdischen Denken Heimatlosigkeit eine zentrale Rolle, da sie als Ausdruck von Freiheit und ethischer Verantwortung verstanden wird. Levinas betont, dass das Judentum seinen Ursprung in der Wüste, einem Niemandsland habe. Levinas sieht gerade in der Heimatlosigkeit eine Voraussetzung für Offenheit gegenüber dem Anderen. Sie verhindere eine Fixierung auf Orte oder Landschaften und lenke den Fokus auf zwischenmenschliche Beziehungen, die für ihn die Grundlage der Ethik darstellen. Diese Perspektive betont die universelle Verantwortung für den Anderen.

Übringens riecht meine Heimat nach Brackwasser, frischem Backgeruch, Kuhmist, Heu und Kiefernharz. Brackwasser erinnert mich an die Berounka südlich von Prag, wo wir in meiner frühen Kindheit die Sommermonate verbrachten. Frischer Backgeruch an die Backkunst meiner Mutter. Der Kuhmist, das Heu und der frische Kiefernharz an die Schweizer Berge.

Pavel - 18:08 @ Philo-Blog | 2 Kommentare

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